Beitrag 1: Das Zeug zum Führen
Mathias Siemann
Februar 1979. Ein Skigebiet in Österreich. Ziemlich garstige Wetterverhältnisse mit reichlich Neuschnee, Nebel und Wind.
Wir waren eine Gruppe von Studenten und Dozenten der Pädagogischen Hochschule in Braunschweig auf Exkursionswoche. In der Ausbildung zum Sportlehrer standen die ersten Leistungsscheine in Skilanglauf und Alpin an.
Seit meiner Kindheit stand ich im Harz und in den Schweizer Bergen auf den Skiern und hatte immer auch noch andere Einzel- wie Mannschaftssportarten betrieben. Für mich persönlich also keine große Sache und außerdem konnte ich das tun, was ich eh gerne mochte: Natur, Sport und mit Leuten zusammensein.
Der verantwortliche Ausbildungsleiter bat mich, einen Teil der Gruppe zu übernehmen. Die meisten Studenten waren noch ziemlich unerfahren in den Bergen. Ich sollte sie nun betreuen, ihnen die nötigen Grundkenntnisse vermitteln und jeden Tag dieser Woche sicher wieder vom Berg bringen.
An einem Nachmittag plötzlich eine Schrecksekunde: Einer der Teilnehmer verlor auf einer Skitour in dichtem Nebel die Orientierung und Kontrolle. Er raste mit hoher Geschwindigkeit in die unterhalb stehende Gruppe. Nur mit viel Glück und spontaner Reaktion wurde ein ernsthafter Zusammenstoß verhindert. Die Gruppe kam -zwar mit zitternden Knien aber wohlbehalten- wieder in der Unterkunft an. Noch mal gutgegangen.
Am Ende der Woche wurde in einer abschließenden Auswertungsrunde über Themen wie Kooperation und Vertrauen, Autorität und Vorbild, Akzeptanz und Verantwortung gesprochen. An mich adressiert, sagte der Ausbildungsleiter: „Übrigens, Du hast das Zeug zum Führen“.
Verwundert nahm ich diesen Satz zur Kenntnis. In der damaligen Zeit und gerade in diesem studentischen Umfeld war das eine eher unerwartete und fast schon provozierende Aussage.
Ich hatte in meinen Augen nichts Besonderes getan; die Episode bei der Skitour war beinahe schon wieder vergessen. Ich hatte lediglich in einem wichtigem Moment die entscheidenden Dinge gesagt und initiiert. In einer Gruppe Verantwortung zu übernehmen, sich um bestimmte Dinge zu kümmern und sich damit ergebenden Herausforderungen zu stellen, war für mich selbstverständlich.
Und über meine persönliche Kompetenz (und die Bereitschaft) zum Führen hatte ich bis dahin noch nicht wirklich nachgedacht. Vielleicht stimmte das ja und ich war mir dessen nur (noch) nicht bewußt?
Ich habe diesen Satz und den Ort, an dem er ausgesprochen wurde, seitdem nie vergessen. Er begleitet mich bis heute und ebenso lange schon habe ich das Glück, ein Geschenk annehmen zu dürfen: Mit Menschen zusammenzukommen, mit ihnen zusammen zu arbeiten und - da wo es sich ergibt - führen zu dürfen.
Mathias Siemann, März 2013